Noch etwa eine Woche bin ich in Indien.
Nach einem sehr schreibarmen Juli hatte ich mir für August
eigentlich vorgenommen, meine letzten Erlebnisse und Ereignisse
wieder wöchentlich hier festzuhalten. Doch wie so oft im Leben kam
es eben anders als wie vorgestellt. Der neuerlichen Schreibflaute zu
Grunde liegen tut nur zu einem kleinen Teil die Tatsache, dass ich
total unterschätzt habe wie viel ich hier zum Abschluß noch zu tun/
zu planen/ zu organisieren habe. Nicht nur für meinen Abschied, auch
für meine Rückkehr. Als einen wesentlicheren Grund für meine
Blogabstinenz würde ich wahrscheinlich die Furcht bezeichnen, mich
mit irgendetwas auseinanderzusetzen, dass mit meiner Rückkehr zu tun
hat/ mit meinen letzten Tagen. Ich meide den Gedanken. Ich entziehe
mich der Realität. Es ist alles so unwirklich. Ich sage euch
ehrlich: Am liebsten würde ich auch diesen Blogeintrag gar nicht
erst schreiben. Einfach um den Gedanken weiter umgehen zu können;
mich nicht damit beschäftigen zu müssen. Aber zum einen ist es
wichtig sich allmählich mit diesem Thema zu beschäftigen und zum
anderen bin ich euch einfach noch einen Blogeintrag schuldig (auch
wenn ich in Österreich sowieso noch einen schreiben werde). Und
außerdem werde ich im Nachhinein wahrscheinlich ja doch froh sein,
hier meine Gedanken rausgelassen zu haben; aufgestauten Gedanken eine
Form zu geben kann ein sehr befreiendes Erlebnis sein. Ich schreibe
seit längerer Zeit nicht einmal mehr für mich selbst Tagebuch. Ich
lebe einfach, und ganz ohne Reflektion, in den Tag hinein. Ich bin
gespannt was hier nun alles so rauskommt.
Zunächst mal: die Tatsache, dass ich
mich mit meinem Abschied noch nicht befasst habe, bedeutet nicht, ich
hätte dasselbe noch nicht mit meiner Rückkehr getan. Denn das habe
ich. Und ich freue mich natürlich schon sehr auf all die großartigen
Menschen die ich während meiner Zeit hier so schmerzlich vermisst
habe und die mir so eine große Stütze waren in Zeiten in denen ich
zu kämpfen hatte (speziell am Anfang). Und doch freue ich mich nicht
mehr so wie vor einem halben Jahr, als mich meine Familie besucht
hatte und ich am liebsten gleich mit ihnen mit nach Hause geflogen
wäre. Nein. Ich habe hier während den letzten 6 Monaten etwas
verloren.. wohl mein Herz. Vijayawada ist mein zweites zu Hause
geworden. Und es tut weh, zum zweiten Mal innerhalb eines Jahres, ein
zu Hause zu verlassen und sich in eine fremde Welt zu begeben. Auch
wenn sich das mit der fremden Welt vermutlich mit der Zeit wieder
legen wird sobald ich in Mödling bin, so kommt mir derzeit der
Gedanke an meine Heimkehr dennoch genauso vor wie die bevorstehende
Reise in eine fremde Welt.
Ein Abschnitt geht zu Ende. Die Erde
dreht sich weiter. Vielen Prüfungen und Lektionen sah ich mich
konfrontiert während der vergangenen 12 Monaten. Ich sehe viele
Dinge jetzt klarer. Ich denke, dass es zu meinen größten Schätzen
gehört, manche Sachen nicht mehr nur zu wissen, sondern auch das
Wesen ihrer zu verstehen; damit meine ich zum Beispiel durch
Erfahrung der Situation, ihren Wert und ihre Besonderheit irgendwann
auch wirklich begriffen und realisiert zu haben. Situationen, wie
einem der Burschen in Vimukti beim Essen kochen Gesellschaft zu
leisten und ihm mit Interesse an seiner Person zu begegnen - um dann
später zu erfahren, dass dies für den Jungen das erste Mal seit
einer Ewigkeit war, oder überhaupt das erste Mal in seinem Leben,
dass sich jemand für ihn interessiert hat. In Indien gibt es so
viele Menschen. Und so viele haben Angst in der Masse unterzugehen.
Es ist in Folge nicht weiter verwunderlich, wie umfassend ein
beträchtlicher Teil der indischen Bevölkerung an
Minderwertigkeitskomplexen leidet. Menschen unterschätzen oft was es
für ein Geschenk für einen anderen Menschen sein kann, ihm nur ein
bisschen von seiner Zeit und seiner Interesse zu schenken. Das wird
es auch sein, was ich am meisten an Indien vermissen werde. Mit
Shareef (einer der Vimukti Burschen, die mir sehr ans Herz gewachsen
sind) am Abend durch das Vimukti Gelände zu spazieren und den
Erzählungen von seinen verrückten Ideen und epochalen Träumen
-welche er mir immer mit einer sensationellen Eigenkreation von
Englisch und begeistertem Gestikulieren ans Herz legte- erst zu
lauschen um sie später mit ihm zusammen zu analysieren.
Ein Thema das mit Hinsicht auf meinen
Abschied in den letzten Monaten zunehmend an Bedeutung in meiner
Gedankenwelt gewonnen hat: Veränderung. Dinge verändern sich
ständig. Jeder Moment auf dieser Welt ist unwiederbringlich und
daher so einzigartig. Ich denke, ein Teil von mir hat dies gewisser
Weise auch schon verstanden. Ein anderer Teil in mir will es aber
einfach nicht verstehen. Will es nicht akzeptieren. Es ist
schmerzhaft Abschied nehmen zu müssen, weil es an der Zeit ist,
wieder Veränderung walten zu lassen, den Lauf der Zeit/ der Dinge
walten zu lassen. Aber davon ist eben das ganze Leben geprägt. Der
Lauf der Zeit/ der Dinge ist ein Lauf der Veränderung. Veränderung
kann sein, dass sich eine Lebenssituation verändert, aber zum
Beispiel auch wenn ein geliebter Mensch stirbt. Das ist alles der
Lauf der Dinge. Und den gilt es als Teil des Lebens anzunehmen.
Akzeptanz und Verständnis für dieses Gesetz ist eine Prüfung, mit
der ein Mensch möglicher Weise sein ganzes Leben lang kämpft. Ich
kämpfe jetzt gerade damit mehr als je zuvor. Indien zu verlassen ist
eine Veränderung in meinem Leben die mir, wenn ich es mir ehrlich
eingestehe, das Herz bricht.
"Du kannst den Lauf der
Veränderung genauso wenig beeinflussen, wie du die Sonnen davon
abhalten kannst unterzugehen." (Filmzitat aus Star Wars)
Meine Abschiedsfeier in Vimukti fand
vergangenen Montag statt. Über die Anwesenheit von Tobias, Christine und Niklas, welche mich zu dieser begleiteten, freute ich mich sehr. Ich wurde zu Beginn der Feier mit einer Blumenkette behangen,
bekam dann eine von den Burschen einstudierte Tanzperformance zu sehen und
lauschte verschiedenen Telugu Ansprachen der Mitarbeiter. Ich hielt
auch eine Ansprache, hatte zudem eine selbstgebastelte Foto Collage,
Süßigkeiten sowie Gewand, welches ich nicht mehr brauche,
mitgebracht, und überreichte es den Burschen und den Mitarbeitern.
Für mich war es sehr schön, dass einige Burschen bei meiner
Abschiedsfeier anwesend waren, welche ich persönlich auch lange in
Vimukti betreut hatte, obwohl diese Zeit schon 2 Monate zurückliegt,
und die meisten Burschen, um die ich mich damals gekümmert hatte, ja
mittlerweile zu Ausbildungszentren und Bridge Schools
weitervermittelt wurden. Zur Erinnerung: die letzten 2 Monate
arbeitete ich im Shelter bzw. beim Street Presence Team am Bahnhof
und nicht mehr in Vimukti. Ein paar meiner alten Burschen sprachen
auch ein paar Worte. Emotionaler Höhepunkt für mich war wohl die
Ansprache von Jagadeesh, in welcher er den anderen Burschen erzählte,
dass er durch meinen Englisch Unterricht wieder Interesse an der
Schule entdeckt hätte und deswegen auch eines Tages Englisch
studieren möchte. Das eine oder andere Mal hatte ich in der Tat
schon so meine Schwierigkeiten, gegen Tränen anzukämpfen. Zum
Schluß gab es noch ein köstliches Mittagessen mit Biryani Rice und
Egg Curry. Nirgends in Indien habe ich ein besseres Egg Curry
gegessen als in Vimukti. Ich bin sehr froh, dass mir die Köchin
beigebracht hat, wie sie es zubereitet. Generell kam eine große
Dankbarkeit während der Feier in mir hoch, für all die Dinge die
ich in Vimukti gelernt und erfahren habe. In all den schönen aber
auch weniger schönen Zeiten.
Christine und Tobias! |
Das obligatorische Händeschütteln für die Kamera ist den Indern sehr wichtig (später umarmten wir uns sowieso) |
Meine Abschiedsrede |
Die Tanzperformance der Burschen unter der Führung von Raja |
Die Überreichung meiner selbstgebastelten Foto Collage an die Burschen und die Mitarbeiter |
Die Verteilung der Süßigkeiten |
Tobi mit einem SUPER Blick so wie ich finde^^ ..und Prasad mit meiner Fotocollage |
Neben meiner Vimukti Abschiedsfeier
fand letztes Wochenende auch eine Abschiedsfeier für Martha, Jonas,
Leo, Felix und mich in der Projektzentrale von Navajeevan mit Father
Arogya statt. Unseren Abschied in der Projektzentrale feierten
Martha, Jonas, Leo, Felix und ich deshalb schon letztes Wochenende,
da jener Abend an dem die Feier stattfand, der letzte war, an dem
alle Volontäre noch zusammen waren. Einen Tag vor unserer Abreise,
also kommenden Montag, werden Martha und ich wahrscheinlich trotzdem
noch einen kleinen Abschied mit den Fathers und den anderen
Volontären feiern. Mein offizieller Abschied von Indien, welcher
also nun schon letztes Wochenende stattfand, fühlte sich den
Umständen entsprechend nicht wie ein Abschied an. Und auch jetzt, wo
mir nur noch ein paar wenige Tage hier in Indien bleiben, realisiere
ich den Gedanken Abschied einfach nicht. Ich bin gespannt, ob er mir
dann kommenden Montag allmählich dämmern wird.
Realitätsverweigerung ist wohl die gebräuchlichste Reaktion eines
Volontärs in Hinsicht auf seine Abreise.
Nun, es ist Abend, die Sonne ist schon
lange untergegangen, und ich komme allmählich zu einem Ende. Was es
für heute noch zu tun gilt, ist sich raus auf den Balkon zu begeben,
das Stadtgeschehen zu verfolgen, die Sterne mit wehmütigen Augen zu
betrachten, seufzend die letzten Eindrücke Indiens aufsaugen. Morgen
geht wieder eine indische Sonne auf. Und übermorgen auch noch. Und
überübermorgen auch noch. Und überüberübermorgen auch noch. Und
überüberüberübermorgen zum letzten Mal auch noch. Doch dann, am
überüberüberüberübernächsten Morgen nicht mehr. Der Gedanke
löst reflexionsartig Furcht aus. Wenn auch der Auslöser für diese
noch nicht wirklich begriffen/realisiert wurde.
Naja. Ab diesem
überüberüberüberübernächsten Tag bin ich jedenfalls wieder live
auf Österreichs Straßen zu finden. Und das nächste Mal wenn ihr
hier von mir lest, wird es sich auch um österreichisches Internet
halten, welche meine Einträge auf diesen Blog digitalisiert.
Weiter möchte ich nicht mit dieser
Liste nicht gehen, da sie Unbehagen auslöst. (Wobei, wenn ich
ehrlich bin, der Gedanke an konstant funktionierendes Internet, bzw.
konstant zur Verfügung stehender STROM, bzw. hygienisch zubereitete,
österreichische Küche, natürlich schon eine gewisse Attraktivität
besitzt. Nun, es wird sicher Mittel und Wege geben, mir meinen
Abschied von Indien etwas leichter fallen zu lassen. Allein meine
Familie und Freunde wieder in die Arme schließen zu können... warum
in diesem Blogeintrag der Frust über meinen Abschied, die Vorfreude
über meine Heimkehr ausgewogen hat, versteht hoffentlich jeder.)
Mit wehmütigen Grüßen zum letzten
Mal aus Indien,
Konstantin
Vijayawada. Stadt meines Herzens |