Donnerstag, 16. August 2012

Wofür es eigentlich keine Worte gibt... meine letzten Tage in Indien

Noch etwa eine Woche bin ich in Indien. Nach einem sehr schreibarmen Juli hatte ich mir für August eigentlich vorgenommen, meine letzten Erlebnisse und Ereignisse wieder wöchentlich hier festzuhalten. Doch wie so oft im Leben kam es eben anders als wie vorgestellt. Der neuerlichen Schreibflaute zu Grunde liegen tut nur zu einem kleinen Teil die Tatsache, dass ich total unterschätzt habe wie viel ich hier zum Abschluß noch zu tun/ zu planen/ zu organisieren habe. Nicht nur für meinen Abschied, auch für meine Rückkehr. Als einen wesentlicheren Grund für meine Blogabstinenz würde ich wahrscheinlich die Furcht bezeichnen, mich mit irgendetwas auseinanderzusetzen, dass mit meiner Rückkehr zu tun hat/ mit meinen letzten Tagen. Ich meide den Gedanken. Ich entziehe mich der Realität. Es ist alles so unwirklich. Ich sage euch ehrlich: Am liebsten würde ich auch diesen Blogeintrag gar nicht erst schreiben. Einfach um den Gedanken weiter umgehen zu können; mich nicht damit beschäftigen zu müssen. Aber zum einen ist es wichtig sich allmählich mit diesem Thema zu beschäftigen und zum anderen bin ich euch einfach noch einen Blogeintrag schuldig (auch wenn ich in Österreich sowieso noch einen schreiben werde). Und außerdem werde ich im Nachhinein wahrscheinlich ja doch froh sein, hier meine Gedanken rausgelassen zu haben; aufgestauten Gedanken eine Form zu geben kann ein sehr befreiendes Erlebnis sein. Ich schreibe seit längerer Zeit nicht einmal mehr für mich selbst Tagebuch. Ich lebe einfach, und ganz ohne Reflektion, in den Tag hinein. Ich bin gespannt was hier nun alles so rauskommt.

Zunächst mal: die Tatsache, dass ich mich mit meinem Abschied noch nicht befasst habe, bedeutet nicht, ich hätte dasselbe noch nicht mit meiner Rückkehr getan. Denn das habe ich. Und ich freue mich natürlich schon sehr auf all die großartigen Menschen die ich während meiner Zeit hier so schmerzlich vermisst habe und die mir so eine große Stütze waren in Zeiten in denen ich zu kämpfen hatte (speziell am Anfang). Und doch freue ich mich nicht mehr so wie vor einem halben Jahr, als mich meine Familie besucht hatte und ich am liebsten gleich mit ihnen mit nach Hause geflogen wäre. Nein. Ich habe hier während den letzten 6 Monaten etwas verloren.. wohl mein Herz. Vijayawada ist mein zweites zu Hause geworden. Und es tut weh, zum zweiten Mal innerhalb eines Jahres, ein zu Hause zu verlassen und sich in eine fremde Welt zu begeben. Auch wenn sich das mit der fremden Welt vermutlich mit der Zeit wieder legen wird sobald ich in Mödling bin, so kommt mir derzeit der Gedanke an meine Heimkehr dennoch genauso vor wie die bevorstehende Reise in eine fremde Welt.

Ein Abschnitt geht zu Ende. Die Erde dreht sich weiter. Vielen Prüfungen und Lektionen sah ich mich konfrontiert während der vergangenen 12 Monaten. Ich sehe viele Dinge jetzt klarer. Ich denke, dass es zu meinen größten Schätzen gehört, manche Sachen nicht mehr nur zu wissen, sondern auch das Wesen ihrer zu verstehen; damit meine ich zum Beispiel durch Erfahrung der Situation, ihren Wert und ihre Besonderheit irgendwann auch wirklich begriffen und realisiert zu haben. Situationen, wie einem der Burschen in Vimukti beim Essen kochen Gesellschaft zu leisten und ihm mit Interesse an seiner Person zu begegnen - um dann später zu erfahren, dass dies für den Jungen das erste Mal seit einer Ewigkeit war, oder überhaupt das erste Mal in seinem Leben, dass sich jemand für ihn interessiert hat. In Indien gibt es so viele Menschen. Und so viele haben Angst in der Masse unterzugehen. Es ist in Folge nicht weiter verwunderlich, wie umfassend ein beträchtlicher Teil der indischen Bevölkerung an Minderwertigkeitskomplexen leidet. Menschen unterschätzen oft was es für ein Geschenk für einen anderen Menschen sein kann, ihm nur ein bisschen von seiner Zeit und seiner Interesse zu schenken. Das wird es auch sein, was ich am meisten an Indien vermissen werde. Mit Shareef (einer der Vimukti Burschen, die mir sehr ans Herz gewachsen sind) am Abend durch das Vimukti Gelände zu spazieren und den Erzählungen von seinen verrückten Ideen und epochalen Träumen -welche er mir immer mit einer sensationellen Eigenkreation von Englisch und begeistertem Gestikulieren ans Herz legte- erst zu lauschen um sie später mit ihm zusammen zu analysieren.

Ein Thema das mit Hinsicht auf meinen Abschied in den letzten Monaten zunehmend an Bedeutung in meiner Gedankenwelt gewonnen hat: Veränderung. Dinge verändern sich ständig. Jeder Moment auf dieser Welt ist unwiederbringlich und daher so einzigartig. Ich denke, ein Teil von mir hat dies gewisser Weise auch schon verstanden. Ein anderer Teil in mir will es aber einfach nicht verstehen. Will es nicht akzeptieren. Es ist schmerzhaft Abschied nehmen zu müssen, weil es an der Zeit ist, wieder Veränderung walten zu lassen, den Lauf der Zeit/ der Dinge walten zu lassen. Aber davon ist eben das ganze Leben geprägt. Der Lauf der Zeit/ der Dinge ist ein Lauf der Veränderung. Veränderung kann sein, dass sich eine Lebenssituation verändert, aber zum Beispiel auch wenn ein geliebter Mensch stirbt. Das ist alles der Lauf der Dinge. Und den gilt es als Teil des Lebens anzunehmen. Akzeptanz und Verständnis für dieses Gesetz ist eine Prüfung, mit der ein Mensch möglicher Weise sein ganzes Leben lang kämpft. Ich kämpfe jetzt gerade damit mehr als je zuvor. Indien zu verlassen ist eine Veränderung in meinem Leben die mir, wenn ich es mir ehrlich eingestehe, das Herz bricht.

"Du kannst den Lauf der Veränderung genauso wenig beeinflussen, wie du die Sonnen davon abhalten kannst unterzugehen." (Filmzitat aus Star Wars)


Meine Abschiedsfeier in Vimukti fand vergangenen Montag statt. Über die Anwesenheit von Tobias, Christine und Niklas, welche mich zu dieser begleiteten, freute ich mich sehr. Ich wurde zu Beginn der Feier mit einer Blumenkette behangen, bekam dann eine von den Burschen einstudierte Tanzperformance zu sehen und lauschte verschiedenen Telugu Ansprachen der Mitarbeiter. Ich hielt auch eine Ansprache, hatte zudem eine selbstgebastelte Foto Collage, Süßigkeiten sowie Gewand, welches ich nicht mehr brauche, mitgebracht, und überreichte es den Burschen und den Mitarbeitern. Für mich war es sehr schön, dass einige Burschen bei meiner Abschiedsfeier anwesend waren, welche ich persönlich auch lange in Vimukti betreut hatte, obwohl diese Zeit schon 2 Monate zurückliegt, und die meisten Burschen, um die ich mich damals gekümmert hatte, ja mittlerweile zu Ausbildungszentren und Bridge Schools weitervermittelt wurden. Zur Erinnerung: die letzten 2 Monate arbeitete ich im Shelter bzw. beim Street Presence Team am Bahnhof und nicht mehr in Vimukti. Ein paar meiner alten Burschen sprachen auch ein paar Worte. Emotionaler Höhepunkt für mich war wohl die Ansprache von Jagadeesh, in welcher er den anderen Burschen erzählte, dass er durch meinen Englisch Unterricht wieder Interesse an der Schule entdeckt hätte und deswegen auch eines Tages Englisch studieren möchte. Das eine oder andere Mal hatte ich in der Tat schon so meine Schwierigkeiten, gegen Tränen anzukämpfen. Zum Schluß gab es noch ein köstliches Mittagessen mit Biryani Rice und Egg Curry. Nirgends in Indien habe ich ein besseres Egg Curry gegessen als in Vimukti. Ich bin sehr froh, dass mir die Köchin beigebracht hat, wie sie es zubereitet. Generell kam eine große Dankbarkeit während der Feier in mir hoch, für all die Dinge die ich in Vimukti gelernt und erfahren habe. In all den schönen aber auch weniger schönen Zeiten. 

Christine und Tobias!


Das obligatorische Händeschütteln für die Kamera ist den Indern sehr wichtig (später umarmten wir uns sowieso)


Meine Abschiedsrede

Die Tanzperformance der Burschen unter der Führung von Raja

Die Überreichung meiner selbstgebastelten Foto Collage an die Burschen und die Mitarbeiter

Die Verteilung der Süßigkeiten


Tobi mit einem SUPER Blick so wie ich finde^^ ..und Prasad mit meiner Fotocollage





Neben meiner Vimukti Abschiedsfeier fand letztes Wochenende auch eine Abschiedsfeier für Martha, Jonas, Leo, Felix und mich in der Projektzentrale von Navajeevan mit Father Arogya statt. Unseren Abschied in der Projektzentrale feierten Martha, Jonas, Leo, Felix und ich deshalb schon letztes Wochenende, da jener Abend an dem die Feier stattfand, der letzte war, an dem alle Volontäre noch zusammen waren. Einen Tag vor unserer Abreise, also kommenden Montag, werden Martha und ich wahrscheinlich trotzdem noch einen kleinen Abschied mit den Fathers und den anderen Volontären feiern. Mein offizieller Abschied von Indien, welcher also nun schon letztes Wochenende stattfand, fühlte sich den Umständen entsprechend nicht wie ein Abschied an. Und auch jetzt, wo mir nur noch ein paar wenige Tage hier in Indien bleiben, realisiere ich den Gedanken Abschied einfach nicht. Ich bin gespannt, ob er mir dann kommenden Montag allmählich dämmern wird. Realitätsverweigerung ist wohl die gebräuchlichste Reaktion eines Volontärs in Hinsicht auf seine Abreise.

Nun, es ist Abend, die Sonne ist schon lange untergegangen, und ich komme allmählich zu einem Ende. Was es für heute noch zu tun gilt, ist sich raus auf den Balkon zu begeben, das Stadtgeschehen zu verfolgen, die Sterne mit wehmütigen Augen zu betrachten, seufzend die letzten Eindrücke Indiens aufsaugen. Morgen geht wieder eine indische Sonne auf. Und übermorgen auch noch. Und überübermorgen auch noch. Und überüberübermorgen auch noch. Und überüberüberübermorgen zum letzten Mal auch noch. Doch dann, am überüberüberüberübernächsten Morgen nicht mehr. Der Gedanke löst reflexionsartig Furcht aus. Wenn auch der Auslöser für diese noch nicht wirklich begriffen/realisiert wurde.

Naja. Ab diesem überüberüberüberübernächsten Tag bin ich jedenfalls wieder live auf Österreichs Straßen zu finden. Und das nächste Mal wenn ihr hier von mir lest, wird es sich auch um österreichisches Internet halten, welche meine Einträge auf diesen Blog digitalisiert.
Weiter möchte ich nicht mit dieser Liste nicht gehen, da sie Unbehagen auslöst. (Wobei, wenn ich ehrlich bin, der Gedanke an konstant funktionierendes Internet, bzw. konstant zur Verfügung stehender STROM, bzw. hygienisch zubereitete, österreichische Küche, natürlich schon eine gewisse Attraktivität besitzt. Nun, es wird sicher Mittel und Wege geben, mir meinen Abschied von Indien etwas leichter fallen zu lassen. Allein meine Familie und Freunde wieder in die Arme schließen zu können... warum in diesem Blogeintrag der Frust über meinen Abschied, die Vorfreude über meine Heimkehr ausgewogen hat, versteht hoffentlich jeder.)

Mit wehmütigen Grüßen zum letzten Mal aus Indien,

Konstantin

Vijayawada. Stadt meines Herzens