Sonntag, 16. Oktober 2011

Meine Woche im Boys Shelter


Heute ist Sonntag, der 16. Oktober 2011. Eine Woche Boys Shelter liegt hinter mir. Es gibt wieder zu erzählen.
Übrigens, die bereits angekündigten, neuen Fotos sind unter diesem Blog Eintrag zu finden.

Zunächst mal, da ich schon vor dieser Woche zweimal das Boys Shelter besucht hatte, kannte ich schon ein paar Burschen, mit denen ich mich schon damals sehr gut verstanden habe. Im Boys Shelter sind Burschen verschiedesten Alters. Die meisten die kommen, kommen aber nur wegen dem Essen - sie gehen nach dem Essen wieder hinaus auf die Straße. Hier wird niemand gezwungen zu bleiben. Über den ganzen Tag hinweg bleiben meistens etwa 20 - 30 Burschen im Shelter. Das Boys Shelter wird nur als eine Art Zwischenstation angesehen. Entweder um die gestrandeten Straßenkinder zu Projekten weiterzuvermitteln, oder um ihnen einen Ausbildungsplatz bei einem der Don Bosco Einrichtungen zu verschaffen. Mir hat meine Woche hier jedenfalls eigentlich sehr gut gefallen. Wir sind jeden Tag gegen Abend wieder zurück ins Flat gefahren bzw. morgens gegen 9 Uhr wieder hingefahren (mit der Rikscha ist der Weg in 10 Minuten hinter sich gebracht). Vormittags steht Unterricht (Englisch aber auch Mathe (!)), wie auch Spiel und Spaß am Programm. Der In-Charge (Leiter) des Shelters nimmt sich am Vormittag zu einem bestimmten Zeitpunkt auch die Zeit, um die Burschen in einem Sitzkreis zu versammeln und um mit ihnen zu reden. Über was sie reden kann ich aufgrund meiner eingeschränkten Telugu Kenntnisse leider nicht genau sagen, aber ich schätze es geht einfach darum um den Burschen klar zu machen wie wichtig Ausbildung etc. ist, damit sie nicht gleich wieder abhauen. Ist das Vormittagsprogramm beendet, so gibt es Mittagessen, bei dem schon bis zu 100 Jugendliche und Kinder kommen können. Am Nachmittag steht zunächst Fernsehen auf dem Programm, später werden wieder Spiele gemacht. Erwähnenswert an der Stelle scheint mir, dass mit fast jedem Programmpunkt der gerade ansteht, Hand in Hand die Faszination der Burschen die gerade neben mir sitzen über meine weiße Haut bzw meinen Körper geht. Nicht dass das eine neue Erfahrung oder so für mich in Indien wäre. Aber diese Woche ist es halt besonders oft vorgekommen, dass einer der Burschen (speziell Mahesh) einfach mal eine halbe Stunde lang meine Wadeln hin und her schwingen ließ. Dabei starrt er wie gebannt darauf wie sie hin und her schwingen, während er sie immer wieder von vorne anschubst. Als ob er keine eigenen Wadeln hätte. Gleichzeitig kommt es gerne vor, dass sich dem Spiel z.B. Kartig (oder einer der anderen Burschen) anschließt und meine Handfläche untersucht. Oft kneift man mir dann leicht in die Handfläche um dann fasziniert zu beobachten, wie sich die Stelle, in die man gekniffen hat, rötlich verfärbt. Oder man sperrt mir am Handgelenk kurz das Blut ab, um zu sehen wie meine ganze Hand rötlich wird. Ich finde es immer wieder herrlich zu beobachten, mit was für einer Faszination und Konzentration die Burschen die bereits genannten Untersuchungen durchführen. Natürlich gibt es auch andere Untersuchungen, zum Beispiel die des Bauches oder der Füße. Aber die Wadeln beziehungsweise die Hände genießen dennoch nach wie die vor die größte Aufmerksamkeit. Selbstverständlich sind aber jetzt nicht nur solche Burschen dabei, die dich ohne jede Scheu gleich kennenlernen und mit dir befreundet sein wollen. Nachdem die Jugendlichen und Kinder direkt von der Straße kommen, sind natürlich auch schwierigere Fälle dabei: Es gibt die, die überhaupt nichts reden und die meiste Zeit einfach traurig auf den Boden schauen, es gibt die Hinterhältigen, bei denen man merkt die haben sich bisher als Gauner auf der Straße durchgeschlagen, es gibt die Misstrauischen (oftmals entpuppen sich diese auch als die Schweigsamen), usw. Alles in allem sind die Burschen dort eigentlich sehr unterschiedlich. Die Woche war ich natürlich bisher hauptsächlich mit denen beschäftigt, die ständig mit mir etwas spielen oder mit mir kämpfen (natürlich nur Spaß halber) wollten. Ich möchte aber auch mehr und mehr von den schüchternen, introvertieren Typen kennenlernen. Ich möchte, dass sie sehen, dass sich wer für sie interessiert, für ihre Geschichte. Ein Bursche im Shelter, der neu dazugekommen ist, hat keinen rechten Fuß mehr; jedoch scheint dieser Fuß nicht richtig behandelt worden zu sein, dementsprechend entstellt schaut der Stumpf zumindest aus. Dieser Jugendliche ist jedenfalls auch sehr passiv, ich hoffe aber im Laufe der nächsten Zeit zu ihm durchdringen zu können. Stichwort 'nächste Zeit'. Diesmal hatte ich es schon fix miteingeplant, dass sich meine Zeit, die ich im Shelter verbringe, noch spontan verändern wird. Nach aktuellem Plan beginnt das neue Camp in Vimukti nämlich doch erst am 26. Oktober.
Übrigens, ich hatte es zwar schon vorhin erwähnt, aber ich möchte noch kurz näher darauf eingehen - tatsächlich habe ich diese Woche auch das erste Mal Mathematik unterrichtet. Ich. Ich, der in diesem Fach in der 7. Klasse durchgeflogen ist, unterrichtet es jetzt. Ohne Zweifel eine Ironie. Zum Glück handelt es sich aber bei dem zu vermittelnden Stoff nur um die aller grundlegendsten Basics. Addition, Subtrahieren, Multiplikation und Dividieren habe ich Gott sei Dank noch drauf. Auch wenn ich in den letzten 5 Jahren diese Art von Rechnungen immer dem Taschenrechner überlassen habe. Aber wie auch immer, es ist jedenfalls sehr angenehm, dass das Unterrichten in Kleingruppen gemacht werden kann, da die Burschen auf Martin (der Volontär der schon länger im Shelter arbeitet), Konrad und mich aufgespalten wurden. So konnte ich mir für jeden individuell Zeit nehmen. Die meisten wussten schon wie Addieren usw. funktioniert, benötigten meine Hilfe nur bei den schwereren Rechnungen. Einer von den Burschen aber wusste zwar wie man addiert und subtrahiert, hatte aber keine Ahnung vom multiplizieren. Es hat zwar seine liebe Zeit gebraucht, aber am Ende der Stunde hatte er schließlich verstanden wie es funktioniert. Ich habe ihm gleich mal einen Haufen Multiplikationen aufgeschrieben die er über die nächsten Tage verteilt üben sollte. Ich hoffe ihm diese Woche das Dividieren beibringen zu können. Leider bin ich am Donnerstag krank geworden und musste das Shelter frühzeitig verlassen. Ich hatte mich verkühlt, mir war schwindlig und ich war auch leicht fiebrig. Wahrscheinlich ist der Ventilator Schuld, den ich über Nacht eine Spur zu stark aufgedreht ließ. Am Freitag ging es mir schließlich noch schlechter, und weil ich schon länger nicht ganz gesund war und vermutete, dass mein Immunsystem einfach ziemlich geschwächt zu sein scheint, ging ich schließlich zum Onkel Doktor, der ausgezeichnet Englisch sprach und bei dem ich mich generell sehr wohl gefühlt habe. Doktor Namia verschrieb mir jede Menge Medizin, und heute, also 2 Tage später, fühle ich mich schon viel besser. Bis auf die lästige Erkrankung am Donnerstag, war meine Woche also wieder sehr nett. Einen ersten Eindruck von den Burschen, die nach Vimukti kommen werden (was auch der Grund ist warum ich überhaupt ins Shelter gekommen bin) kann ich nur teilweise geben. Ich glaube nämlich alle noch nicht kennengelernt zu haben. Leider geht es nämlich auch im Shelter ziemlich chaotisch zu, aber daran habe ich mich eigentlich ohnehin schon gewöhnt. Die, die ich bisher kennengelernt habe, sind jedenfalls ganz okay denke ich. Ich habe mich schon öfters zu ihnen hingesetzt um sie näher kennenzulernen; etwa eine Handvoll Burschen war auch  gleich voller Begeisterung darauf aus, Freunschaft zu schließen; die anderen brauchen wohl einfach noch ein bisschen. Als letztes erwähnenswertes Ereignis scheint mir der Ausflug zum Kinderdorf Chiguru am Mittwoch. Es war sehr nett. Am Vormittag wurden Spiele gespielt, gleichzeitig wurde mit den Burschen aber auch wieder über ihre Situation geredet. Diese sollte auch kreativ veranschaulicht bzw. ausgedrückt werden. Eine Zeichnung von der Situation zu Hause bei den Eltern oder auf der Straße sollte gemacht werden. Die Care Mother hat mir gesagt, dass das eine sehr emotionale Sache ist für die Burschen, es ist schon vorgekommen, dass manche angefangen haben zu weinen. Später folgte jedenfalls das gemeinsame Kochen des Mittagessens, was mir ebenfalls sehr gut gefallen hat. Ich habe eine mir unbekannte Art von Gemüse geschnitten, und dabei, so denke ich zumindest, auch einen ganz guten Job gemacht. Am Nachmittag wurde Fußball gespielt, dann gab es noch ein Abschluß Assembly und um ca. 16h ging es wieder auf den Weg zurück ins Shelter.

Obwohl in dieser Woche eigentlich nichts geschehen ist, womit ich absolut nicht gerechnet hätte bzw. mich jetzt weltbewegend beeindruckt hätte, so habe ich dennoch heute, beim obligatorischen Zusammenfassen der Woche, das erste Mal das Gefühl, dass etwas anders ist mit mir als sonst. Nicht nur heute, eigentlich auch schon die letzten paar Tage. Ich glaube, ich beginne mich in eine Art Veränderungsprozess zu begeben. Indien berührt mich. Meine Situation macht mich nach wie vor nachdenklich, aber auf eine andere Art und Weise als wie zu Beginn. Ein entscheidender Punkt ist auch, diese Erfahrung völlig auf mich alleine gestellt, ohne einem einzigen bekannten Gesicht zu machen. Wenn ich vor ein paar Wochen noch an diesen Punkt gedacht hatte, dann kam in mir nur eines auf, nämlich Heimweh. Dass ich nach wie vor ein bisschen Heimweh habe kann ich nicht leugnen, aber mittlerweile scheint sich auch ein anderes Gefühl in mir aufzudrängen wenn ich über diesen Punkt nachdenke. Ich weiß nicht ob ich ausdrücken kann wie sich dieses Gefühl anfühlt, aber es ist jedenfalls so, als ob ich mich langsam aus der  Haltung, Pflichten und Dinge, die unangenehm für mich sind und mich immer viel Überwindung gekostet haben, oder die schlichtweg viel Aufwand gefordert haben, aufzuschieben, zu umgehen oder sehr halbherzig zu erledigen, hinausentwickeln würde. Diese eigentlich pubertäre Haltung die mich nie ganz losgelassen hat in meiner Jugend. Ich weiß nicht wieso dieses Gefühl im Zusammenhang mit dem Gedanken an zu Hause entsteht, aber vielleicht weil ich einfach mal aus der heimischen Situation hinaus musste, in der eigentlich alles so ordnungsgemäß, abgesichert und im Endeffekt auch ohne größere Konsequenz bei Vernachlässigung der Dinge seinen Lauf nimmt. Es lag mir jetzt irgendwie noch am Herzen, zumindest zu versuchen, dieses Gefühl zu beschreiben. Ich weiß aber nicht, ob mir das auch wirklich gelungen ist.

Wie auch immer, ich werde jetzt wohl jedenfalls langsam wieder Schluß machen. Ich bin froh, dass das Schicksal es überhaupt so gut mit mir meinte und mich diesen Blog Eintrag heute tatsächlich noch veröffentlichen ließ. Seit heute Vormittag kämpfe ich nun mit dem Internet bzw. mit etlichen Stromausfällen, die mir das Veröffentlichen der unten zu findenden Fotos und dieses Eintrages immer wieder schwer wenn nicht sogar gänzlich unmöglich gemacht haben. Aber ich darf mich nun, um 20 Uhr am Abend (Ortszeit) schlußendlichdoch als Sieger kühren.

Liebe Grüße aus Indien

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