Vijayawada in der Abenddämmerung |
Um es gleich zu Beginn vorweg zu nehmen: Ja ich weiß, wir haben Anfang Dezember, und als ich in meinem letzten Blogeintrag wissen ließ, einen letzten abschließenden Blogeintrag nach meiner Rückkehr in Österreich verfassen zu wollen, so war im Hintergrund dieses Gedankens damals freilich nicht miteingeflossen, diesen Blogeintrag erst 3 Monate nach meiner Rückkehr zu schreiben. So manch Umstand spielt eine Rolle für diese Verspätung. Ich werde nicht auf jeden dieser Umstände eingehen. Nur auf die, die auch wirklich mit Indien und der verzweifelten Suche nach einem Abschluss bzw. einem neuen Anschluss zu tun haben. Ich habe allerdings noch keinen Plan was sich bei diesem Eintrag inhaltlich zu entwickeln plant. Zurzeit weiß ich nur eins, nämlich dass ich nun schon länger, also seit meiner Rückkehr, nichts mehr geschrieben, nichts mehr verarbeitet habe. Nicht unbewusst. Ich merke es schon, wenn ich mir in solchen Dingen selbst was vormache. Mir war schon klar, dass es mir gut tun würde zu schreiben, aber irgendwas in mir wollte sich von diesem Thema restlos emotional abgrenzen. Ich stand vor dem Schreiben dieses Blogeintrags vor der Wahl, entweder einen konventionellen, blumigen Aufsatz über Indien zu verfassen oder mich und eine große Herzensangelegenheit einfach fließen zu lassen. Hätte ich mich für Ersteres entschlossen, so wäre dieser schon lange zu lesen gewesen. Mich in einer so großen Herzensangelegenheit direkt zu konfrontieren zog wohl einfach einen gewissen Grad der Überwindung und damit Verzögerung nach sich. Ein weiterer mich von dem Schreiben dieses Blogs abhaltender Grund war der Gedanke des endgültigen Abschlusses der mit der Vervollständigung dieses Blogs einhergehen würde bzw. könnte. Mit einer einzigartigen, unwiederbringlichen und ganz besonderen Phase meines Lebens zu einem Ende zu kommen. Dazu fühlte ich mich bisher einfach noch nicht bereit. Einen Schlussstrich zu ziehen. Aber: Der Mensch braucht einfach etwas in das er seine Gefühle hineinfließen lassen kann, wenn sie drohen einem im Herzen überzugehen. Nun also will ich sie jedenfalls versuchen zu verfassen, die Worte, die sich schon so lange in meiner Brust regen.
Warum fiel/fällt mir das Abschließen so schwer? Zum einen spielt
eine Rolle, dass ich von Natur aus ein Mensch bin der sich schwer tut mit etwas
abzuschließen, da ich erlebten Phasen oder Geschehnissen die mich besonders
berührt haben schnell mal einen idealistischen Stellenwert gebe. Das war schon
immer so. Zum anderen aber auch weil mein Abschied aus Indien mehr ein abruptes
Herausreißen aus einer sehr tiefgehenden Phase als ein sich allmählich entwickelnder
Prozess war. Wie ein Sturz der Zeit, ein sich urplötzlich verzehrender Gedanke,
der sich nicht zu Ende denken konnte. Nicht zum Ende gekommen zu sein - so fühle ich mich. Das Wesen der Sache
gefühlt, berührt; aber nicht ergriffen zu haben. Jaja ich weiß, ich hab dem und
dem vielleicht was beigebracht, bin für den und den ja da gewesen, hab mich um
den und den schließlich bemüht. Aber.. wieso fühle ich mich dann so
unvollständig? So halbleer? Und eben nicht halbvoll. Woher kommen diese
Schuldgefühle?
Mein Herz und Indien. Ein schweres, erstickendes, tiefes
Eintauchen in unruhige Wasser.
Ein Schrei nach Objektivität. Treffe ich hier auch wirklich
den Punkt? Oder kratze ich mal wieder nur an der Fassade?
Nein, da ist schon was dran. Da sind Schuldgefühle. Da ist
Wut auf mich selbst. Und Enttäuschung. Und gleichzeitig so viel Reichtum. Ohne
Zweifel, all der etwas bedrückende Text hier resultiert zu einem gewissen Maß daraus,
den Schatz der mir vor Augen lag nicht immer tatsächlich wahrgenommen und allem
anderen, all den entmutigenden und bitteren Erfahrungen ausgewogen haben zu
lassen. Denn da war auch wirklich Freude in meinem Einsatz. In den Augen der
Kinder wenn sie etwas im Unterricht verstanden haben; wenn man sich zum Spielen
zu ihnen gesetzt – und vor allem dann noch gewinnen lassen hat. Nein, der
Gedanke darf neben alldem was jetzt vielleicht noch kommt nicht untergehen: ich
fühle mich reich beschenkt.
So wie ich meinen Einsatz erlebt habe, so suche ich nun zum
Einen nach einem Abschluss für zwar keine perfekte, aber dafür einzigartige und
für mich vorherbestimmte Zeit und zum Anderen nach einem neuen Anschluss für
einen neuen Lebensabschnitt. Und um einem solchen Abschluss bzw. einem solchen
Anschluss näher zu kommen muss mich einfach nochmal tief in sie einlassen, in all die schweren, mich vereinnehmenden, verzehrenden Gedanken.
Trotz all der Rückschläge, all der Verbitterung während meines
Einsatzes spüre ich große Sehnsucht und Verbundenheit mit Indien. Und gerade
aus emotionaler Verbundenheit heraus kann dann so ein Text, wie der kommende
Absatz, entstehen, in dem man gedanklich nochmal tief eintaucht, in diese
völlig gegensätzliche Realität, Welt, in dieses Indien.
Ich bin jemand der von jeher immer versucht hat viel aus
einer anderen Welt, aus Träumen in seinen Alltag einzubauen, jemand der
Realität oft und nur allzu gerne umgangen oder abgelehnt hat. Indien ist
zweifellos mitunter die härteste Realität die es zu erfahren, wenngleich auch
eine der fantastischsten Welten die es zu entdecken gibt. Aber mein Punkt, an
dem ich jetzt ansetzen möchte, ist jedenfalls die Realität. Die Realität der
Welt. Da gab es für mich keinen Weg drumrum in Indien. Nur mittenhindurch. Und
es hat mich verbittert wie Realität tatsächlich sein kann. Für so viele
Menschen. Im Affekt eines nicht funktionierenden Systems. Krankheit gibt es
überall, selbst bei denen, die sie versuchen bei anderen zu lindern. Auch um
sie macht das System letzten Endes oft keinen Bogen. In meinem Einsatzprojekt
lief vieles nicht so, wie es laufen hätte sollen. Dinge, bei denen alle Welt
vermeintlich glaubt zu wissen wie sie laufen und aus ihrem vermeintlichen
Wissen heraus die Sache unterstützen; Dinge, Probleme vor denen die
Verantwortlichen vor Ort -wissend dass in ihrer Arbeit so manches nicht richtig
läuft- wegsehen. Lernen durch Konfrontation - eine unweigerliche Aneignung.
Konfrontation mit dem nackten, tatsächlichen Lauf der Welt. Das prägt und
entreißt einem jedes schönredenden Wortes im Ansatz. Es gibt nichts auf dieser
Welt, das perfekt ist. Aber die Realisierung wie weit eine Gesellschaft, ein
System davon entfernt sein kann perfekt zu sein, ist erst dann möglich in etwa
zu erfassen, wenn man ihn gesehen und erlebt hat: Den Hühnerkäfig. In den sie
gestopft werden, die Kastenlosen, die kleinen unbedeutenden Arbeiter. Zusammengepfercht
und in Arbeit geschwemmt um dabei zwar viel zu wenig zu verdienen, aber dafür
um Fortschritt in der Wirtschaft zu ermöglichen, und um dabei früher oder
später ja doch nur auf der Strecke zu bleiben. Natürlich ist zu
berücksichtigen, dass Inder eine völlig andere Lebenseinstellung -adaptiert auf
ihre nicht zu ändernde Situation- als wir haben, aber mir geht es in diesem
Text auch weniger darum wie die Menschen mit ihrer Situation gelernt haben
umzugehen, als darum wie für mich der Gedanke, dass ein Mensch weniger wert
sein kann als eine Kuh, einfach nicht zu erfassen ist. In Indien herrscht ein
riesiger Minderwertigkeitskomplex. So habe ich es zumindest erlebt. Tief
verwurzelt in fast jedem Menschen den ich in diesem Jahr kennengelernt habe -
und das waren einige. Verwundern sollte das, bei einer derartigen
Bevölkerungsexplosion und einem Gesellschaftssystem, in dem jeder Mensch von
Geburt an als jemand, abhängig von seiner Kastenzugehörigkeit, abgestempelt
wird, jetzt nicht weiter. Gleichzeitig ist da aber auch Leben und Hoffnung. Es
gibt immer wieder Fälle die Hoffnung geben, und für die es sich lohnt ein Jahr
seines Lebens herzuschenken. Und genau darauf muss man sich während so eines
Einsatzes auch einfach konzentrieren lernen – auf die 0,1 % die diesem System
zum Trotz genau das aus ihrem Leben machen, das immer ihr Traum gewesen ist,
obwohl es alle anderen für unmöglich zu erreichen erklärt haben. Es gibt sie,
diese 0,1 %.
So sehr ich meiner Welt auch nicht fremd erscheinen mag, so weit
und umfassend wirft es doch manchmal seinen Schatten über mich, das Befremdliche
unserer ach so viel besser funktionierenden Gesellschaft. Was wir besser
machen? Bei uns gibt es weniger Menschen. Wir haben die Möglichkeit uns
einzuigeln in unserer Wohlstandsgesellschaft – wir können es uns leisten. Zwar
gibt es ohne Zweifel auch in Österreich einen Anteil an Menschen, der auf der
Strecke bleibt, aber diese Menschen sind eine Minderheit, bei denen man es sich
leisten kann sie zu ignorieren. Was hat man in dem bevölkerungsüberquellenden
Asien das wir nicht haben? - Solidarität, ein komplett anderes Verständnis von
Gemeinschaft und Zusammenhalt. Dort gibt es zuerst die Masse, dann den Menschen.
Warum spricht in Indien ein Junge einen wildfremden Mann auf der Straße mit
„Großer Bruder“ an? Weil der Junge von anderen Menschen abhängig ist. Er
schafft es nicht alleine. Und das unterscheidet unsere Welten so sehr von
einander: Die Möglichkeit bei uns, egoistisch, unabhängig vom nächsten zu sein.
Dadurch entsteht natürlich eine völlig andere Mentalität. Die Leute
wollen/brauchen bzw. denken sie bräuchten immer mehr, jeder will eines Tages so
unabhängig wie nur irgend möglich sein und sich alles leisten können. Doch
dieses Denken hat keine Nachhaltigkeit. Unser System hat keine Nachhaltigkeit. In
Wirklichkeit ist alles von so geringer Dauer; Ressourcen, unsere
Wohlstandsseifenblase und die Zeit die wir darin haben und nutzen. Und was
machen wir in dieser Lage? So viel rausholen wie nur irgend möglich ist bis die
Seifenblase platzt. Es ist jetzt allerdings auch nicht so, als ob wir groß eine
andere Wahl hätten. So funktioniert eben Europa.
Bei dem Gedanken an diese Schere zwischen arm und reich,
zwischen gerecht und ungerecht, zwischen zu viel und zu wenig, fühle ich mich
manchmal nur noch hilflos, weil ich nichts anderes tun kann als zuzusehen wie
sie immer weiter auseinander geht. Hilflosigkeit ist der Preis der Erfahrung
meines Einsatzes. Zumindest fühlt es sich manchmal so an. Ich weiß schon: ich
sollte mich auf die 0,1% konzentrieren; auf die paar Kinder, denen ich helfen
konnte; auch wenn es nicht viel war, ein bisschen habe ich schließlich doch beigetragen
um diese Welt besser zu machen. Aber ich kann mich nicht zu diesen Gedanken
zwingen, ich kann keine echte Freude empfinden; Hilflosigkeit ist das intensivere
Gefühl.
Einiges kann nie wieder so werden wie es einmal war. Die
Realisierung dieses Gedankens nach meiner Rückkehr war für mich sehr
erschütternd, da es die Vorstellung einiger Dinge, wie z.B Unternehmungen mit
Freunden waren, die mir oft halfen in Indien voranzugehen. Doch dann komme ich
nach Hause und finde mich so, wie genau vor einem Jahr zu Anfangs in Indien vor
– isoliert und Abstand haltend; eine Fassade aufbauend; unsicher im Verhalten
zu anderen Menschen. Ein Deja Vu, ein Kulturschock. Dieselbe Geschichte wie bei
meinen ersten Einsatzmonaten; nicht nur was die Unfähigkeit mit der aktuellen
Situation umzugehen betrifft, sondern auch was die Vorstellung angeht, die man
sich im Vorfeld darüber gemacht hat, wie wohl alles sein wird wenn man erst mal
da ist – da diese Vorstellung sich schließlich in beiden Fällen, also nach der
Hin- wie auch nach der Rückreise, als Fantasie, als Gehirngespinst welches
nichts mit der Realität zu tun hat, entpuppte. So viel Dinge wollte ich nach
meiner Rückkehr tun, realisieren… und dann kehre ich zurück, und kann aber
einfach nicht. Der Gedanke an mein Projekt, meine Kinder. Es kommt mir vor, als
wäre ich ganz plötzlich und ohne Vorwarnung abgehauen, herausgerissen worden,
aus meinem neuen Leben. Was soll ich hier? Ich passe hier nirgendwo rein.
Loslassen. Seufzend schleicht sich dieses Wort in meine
Gedanken. Es hört sich ja theoretisch recht leicht an. Einfach den Griff
lockern und fallen lassen. Aber so leicht ist es eben doch nicht immer. Der
Mensch braucht immer eine Sache bei der er das Gefühl hat, sie im Griff zu
haben. Wenn dem mal nicht so ist, dann fühlt er sich schnell wie im Regen
stehen gelassen. Indien war das was ich hatte, meine Welt. Jetzt warten viele
neue Herausforderungen. Es ist nicht so, als ob ich nun komplett perspektivlos
wäre; mir fehlt derzeit nur der richtige Blickwinkel. Ich habe meine Visionen,
meine Träume; neue Herausforderungen und Aufgaben. Doch habe ich sie alle nicht
im Griff, kann sie alle nicht richtig einordnen. Kenne den Weg eben noch nicht.
Das zieht alles so viel Unsicherheit nach sich.
Vertrauen. Glauben. Manchmal ist das einzig richtige das man
tun kann, den Kopf abzudrehen und einfach vertrauen und glauben zu lernen. Der
Mensch, der versucht auf dieser Welt immer alles im Griff zu haben verbittert
bald. Der Mensch, der versucht sich auf dieser Welt alles rational zu erklären
wird nie wirklich Weisheit finden können.
Das Leben fließen lassen und sich neu einordnen lernen… wäre
eine erwachsene Haltung mit dieser Situation umzugehen. Einordnen in die neue
Rolle. Alle bisherigen Versuche der Einordnung endeten bei mir jedoch nur in
Überforderung. Ja, ich bin total überfordert. So wie ich es in meinem Leben
noch nie war.
Wie war das nochmal mit dem Loslassen? … Ich versuche mal
dieses Bild zu verdeutlichen, das mir zu diesem Wort ‚Loslassen‘ in den Sinn
kommt: Indien, mein Projekt Vimukti, auf dem Dach, Sommer, Nacht. Alle Burschen
haben die Matratzen auf das Dach geschleppt weil es im Sommer einfach zu heiß
ist um im Zimmer zu schlafen. Klarer wie eine Nacht, ein sich in alle
Unendlichkeit erstreckendes Sternenzelt nicht sein könnte. Das gleichmäßige,
omnipräsente Zirpen der Grillen und das säumige, träge Rascheln der Blätter des
umliegenden Mangohains. Und da: ein Schwarm dem Schwarz der Nacht entreißender,
leuchtend ergleißender, über meinem Kopf hinweggleitender Glühwürmchen. Das
offene, freie Lachen der Kinder die nicht schlafen wollen. Ich mittendrin,
gedankenlos, planlos, wunschlos, zeitlos. Nur dieses Gefühl am richtigen Fleck
der Welt gerade zu sein.
Ich denke inhaltlich war dieser letzte Absatz wohl so etwas
wie mein abschließender Gedanke. Man darf sich zu dem Gelesenen nun denken was
man will; ich weiß was ich an diesem Einsatz hatte und ich würde diese Erfahrung
um nichts auf dieser Welt wieder Ungeschehen machen oder tauschen wollen. Ich
habe meine Lehren, meine Konsequenzen gezogen; meinen Kopf, mein Herz für viel
Neues geöffnet. Bin mit vielem aber auch einfach ganz direkt konfrontiert
worden, so dass sich so manche Ströme alle Wände durchbrechend selbstständig ihren
Weg in mein Herz gebahnt haben.
Ich weiß nicht, ob all das, was ich in den letzten knapp 15
Monaten auf diesem Blog so veröffentlicht habe, auch lesenswert, bzw. teilweise
überhaupt lesbar war. Aber darüber habe ich mir zugegeben nie besonders viel
Gedanken gemacht. Ich hoffe allerdings, ich konnte dem Einen oder Anderen
halbwegs nachvollziehbar nahelegen, was dieses Jahr für ein Herzenseinfluss und
unbändiges Erlebnis, für eine Liebeserfahrung, Weltenerschütterung für mich
war.
Zum ersten, und doch zum letzten Mal - mit Grüßen aus
Mödling,
Konstantin
Ps: Ich werde irgendwann in der nächsten Zeit noch ein paar Fotos von meinen letzten Wochen in Indien hochstellen.
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