Mittwoch, 12. Dezember 2012

Ein Abschluss; ein Anschluss - eine letzte Entfaltung bedeutungssuchender Wörter

Vijayawada in der Abenddämmerung



Um es gleich zu Beginn vorweg zu nehmen: Ja ich weiß, wir haben Anfang Dezember, und als ich in meinem letzten Blogeintrag wissen ließ, einen letzten abschließenden Blogeintrag nach meiner Rückkehr in Österreich verfassen zu wollen, so war im Hintergrund dieses Gedankens damals freilich nicht miteingeflossen, diesen Blogeintrag erst 3 Monate nach meiner Rückkehr zu schreiben. So manch Umstand spielt eine Rolle für diese Verspätung. Ich werde nicht auf jeden dieser Umstände eingehen. Nur auf die, die auch wirklich mit Indien und der verzweifelten Suche nach einem Abschluss bzw. einem neuen Anschluss zu tun haben. Ich habe allerdings noch keinen Plan was sich bei diesem Eintrag inhaltlich zu entwickeln plant. Zurzeit weiß ich nur eins, nämlich dass ich nun schon länger, also seit meiner Rückkehr, nichts mehr geschrieben, nichts mehr verarbeitet habe. Nicht unbewusst. Ich merke es schon, wenn ich mir in solchen Dingen selbst was vormache. Mir war schon klar, dass es mir gut tun würde zu schreiben, aber irgendwas in mir wollte sich von diesem Thema restlos emotional abgrenzen. Ich stand vor dem Schreiben dieses Blogeintrags vor der Wahl, entweder einen konventionellen, blumigen Aufsatz über Indien zu verfassen oder mich und eine große Herzensangelegenheit einfach fließen zu lassen. Hätte ich mich für Ersteres entschlossen, so wäre dieser schon lange zu lesen gewesen. Mich in einer so großen Herzensangelegenheit direkt zu konfrontieren zog wohl einfach einen gewissen Grad der Überwindung und damit Verzögerung nach sich. Ein weiterer mich von dem Schreiben dieses Blogs abhaltender Grund war der Gedanke des endgültigen Abschlusses der mit der Vervollständigung dieses Blogs einhergehen würde bzw. könnte. Mit einer einzigartigen, unwiederbringlichen und ganz besonderen Phase meines Lebens zu einem Ende zu kommen. Dazu fühlte ich mich bisher einfach noch nicht bereit. Einen Schlussstrich zu ziehen. Aber: Der Mensch braucht einfach etwas in das er seine Gefühle hineinfließen lassen kann, wenn sie drohen einem im Herzen überzugehen. Nun also will ich sie jedenfalls versuchen zu verfassen, die Worte, die sich schon so lange in meiner Brust regen.

Warum fiel/fällt mir das Abschließen so schwer? Zum einen spielt eine Rolle, dass ich von Natur aus ein Mensch bin der sich schwer tut mit etwas abzuschließen, da ich erlebten Phasen oder Geschehnissen die mich besonders berührt haben schnell mal einen idealistischen Stellenwert gebe. Das war schon immer so. Zum anderen aber auch weil mein Abschied aus Indien mehr ein abruptes Herausreißen aus einer sehr tiefgehenden Phase als ein sich allmählich entwickelnder Prozess war. Wie ein Sturz der Zeit, ein sich urplötzlich verzehrender Gedanke, der sich nicht zu Ende denken konnte. Nicht zum Ende gekommen zu  sein - so fühle ich mich. Das Wesen der Sache gefühlt, berührt; aber nicht ergriffen zu haben. Jaja ich weiß, ich hab dem und dem vielleicht was beigebracht, bin für den und den ja da gewesen, hab mich um den und den schließlich bemüht. Aber.. wieso fühle ich mich dann so unvollständig? So halbleer? Und eben nicht halbvoll. Woher kommen diese Schuldgefühle?
Mein Herz und Indien. Ein schweres, erstickendes, tiefes Eintauchen in unruhige Wasser.
Ein Schrei nach Objektivität. Treffe ich hier auch wirklich den Punkt? Oder kratze ich mal wieder nur an der Fassade?
Nein, da ist schon was dran. Da sind Schuldgefühle. Da ist Wut auf mich selbst. Und Enttäuschung. Und gleichzeitig so viel Reichtum. Ohne Zweifel, all der etwas bedrückende Text hier resultiert zu einem gewissen Maß daraus, den Schatz der mir vor Augen lag nicht immer tatsächlich wahrgenommen und allem anderen, all den entmutigenden und bitteren Erfahrungen ausgewogen haben zu lassen. Denn da war auch wirklich Freude in meinem Einsatz. In den Augen der Kinder wenn sie etwas im Unterricht verstanden haben; wenn man sich zum Spielen zu ihnen gesetzt – und vor allem dann noch gewinnen lassen hat. Nein, der Gedanke darf neben alldem was jetzt vielleicht noch kommt nicht untergehen: ich fühle mich reich beschenkt.
So wie ich meinen Einsatz erlebt habe, so suche ich nun zum Einen nach einem Abschluss für zwar keine perfekte, aber dafür einzigartige und für mich vorherbestimmte Zeit und zum Anderen nach einem neuen Anschluss für einen neuen Lebensabschnitt. Und um einem solchen Abschluss bzw. einem solchen Anschluss näher zu kommen muss mich einfach nochmal tief in sie einlassen, in all die schweren, mich vereinnehmenden, verzehrenden Gedanken.



Trotz all der Rückschläge, all der Verbitterung während meines Einsatzes spüre ich große Sehnsucht und Verbundenheit mit Indien. Und gerade aus emotionaler Verbundenheit heraus kann dann so ein Text, wie der kommende Absatz, entstehen, in dem man gedanklich nochmal tief eintaucht, in diese völlig gegensätzliche Realität, Welt, in dieses Indien.

Ich bin jemand der von jeher immer versucht hat viel aus einer anderen Welt, aus Träumen in seinen Alltag einzubauen, jemand der Realität oft und nur allzu gerne umgangen oder abgelehnt hat. Indien ist zweifellos mitunter die härteste Realität die es zu erfahren, wenngleich auch eine der fantastischsten Welten die es zu entdecken gibt. Aber mein Punkt, an dem ich jetzt ansetzen möchte, ist jedenfalls die Realität. Die Realität der Welt. Da gab es für mich keinen Weg drumrum in Indien. Nur mittenhindurch. Und es hat mich verbittert wie Realität tatsächlich sein kann. Für so viele Menschen. Im Affekt eines nicht funktionierenden Systems. Krankheit gibt es überall, selbst bei denen, die sie versuchen bei anderen zu lindern. Auch um sie macht das System letzten Endes oft keinen Bogen. In meinem Einsatzprojekt lief vieles nicht so, wie es laufen hätte sollen. Dinge, bei denen alle Welt vermeintlich glaubt zu wissen wie sie laufen und aus ihrem vermeintlichen Wissen heraus die Sache unterstützen; Dinge, Probleme vor denen die Verantwortlichen vor Ort -wissend dass in ihrer Arbeit so manches nicht richtig läuft- wegsehen. Lernen durch Konfrontation - eine unweigerliche Aneignung. Konfrontation mit dem nackten, tatsächlichen Lauf der Welt. Das prägt und entreißt einem jedes schönredenden Wortes im Ansatz. Es gibt nichts auf dieser Welt, das perfekt ist. Aber die Realisierung wie weit eine Gesellschaft, ein System davon entfernt sein kann perfekt zu sein, ist erst dann möglich in etwa zu erfassen, wenn man ihn gesehen und erlebt hat: Den Hühnerkäfig. In den sie gestopft werden, die Kastenlosen, die kleinen unbedeutenden Arbeiter. Zusammengepfercht und in Arbeit geschwemmt um dabei zwar viel zu wenig zu verdienen, aber dafür um Fortschritt in der Wirtschaft zu ermöglichen, und um dabei früher oder später ja doch nur auf der Strecke zu bleiben. Natürlich ist zu berücksichtigen, dass Inder eine völlig andere Lebenseinstellung -adaptiert auf ihre nicht zu ändernde Situation- als wir haben, aber mir geht es in diesem Text auch weniger darum wie die Menschen mit ihrer Situation gelernt haben umzugehen, als darum wie für mich der Gedanke, dass ein Mensch weniger wert sein kann als eine Kuh, einfach nicht zu erfassen ist. In Indien herrscht ein riesiger Minderwertigkeitskomplex. So habe ich es zumindest erlebt. Tief verwurzelt in fast jedem Menschen den ich in diesem Jahr kennengelernt habe - und das waren einige. Verwundern sollte das, bei einer derartigen Bevölkerungsexplosion und einem Gesellschaftssystem, in dem jeder Mensch von Geburt an als jemand, abhängig von seiner Kastenzugehörigkeit, abgestempelt wird, jetzt nicht weiter. Gleichzeitig ist da aber auch Leben und Hoffnung. Es gibt immer wieder Fälle die Hoffnung geben, und für die es sich lohnt ein Jahr seines Lebens herzuschenken. Und genau darauf muss man sich während so eines Einsatzes auch einfach konzentrieren lernen – auf die 0,1 % die diesem System zum Trotz genau das aus ihrem Leben machen, das immer ihr Traum gewesen ist, obwohl es alle anderen für unmöglich zu erreichen erklärt haben. Es gibt sie, diese 0,1 %.

So sehr ich meiner Welt auch nicht fremd erscheinen mag, so weit und umfassend wirft es doch manchmal seinen Schatten über mich, das Befremdliche unserer ach so viel besser funktionierenden Gesellschaft. Was wir besser machen? Bei uns gibt es weniger Menschen. Wir haben die Möglichkeit uns einzuigeln in unserer Wohlstandsgesellschaft – wir können es uns leisten. Zwar gibt es ohne Zweifel auch in Österreich einen Anteil an Menschen, der auf der Strecke bleibt, aber diese Menschen sind eine Minderheit, bei denen man es sich leisten kann sie zu ignorieren. Was hat man in dem bevölkerungsüberquellenden Asien das wir nicht haben? - Solidarität, ein komplett anderes Verständnis von Gemeinschaft und Zusammenhalt. Dort gibt es zuerst die Masse, dann den Menschen. Warum spricht in Indien ein Junge einen wildfremden Mann auf der Straße mit „Großer Bruder“ an? Weil der Junge von anderen Menschen abhängig ist. Er schafft es nicht alleine. Und das unterscheidet unsere Welten so sehr von einander: Die Möglichkeit bei uns, egoistisch, unabhängig vom nächsten zu sein. Dadurch entsteht natürlich eine völlig andere Mentalität. Die Leute wollen/brauchen bzw. denken sie bräuchten immer mehr, jeder will eines Tages so unabhängig wie nur irgend möglich sein und sich alles leisten können. Doch dieses Denken hat keine Nachhaltigkeit. Unser System hat keine Nachhaltigkeit. In Wirklichkeit ist alles von so geringer Dauer; Ressourcen, unsere Wohlstandsseifenblase und die Zeit die wir darin haben und nutzen. Und was machen wir in dieser Lage? So viel rausholen wie nur irgend möglich ist bis die Seifenblase platzt. Es ist jetzt allerdings auch nicht so, als ob wir groß eine andere Wahl hätten. So funktioniert eben Europa.
Bei dem Gedanken an diese Schere zwischen arm und reich, zwischen gerecht und ungerecht, zwischen zu viel und zu wenig, fühle ich mich manchmal nur noch hilflos, weil ich nichts anderes tun kann als zuzusehen wie sie immer weiter auseinander geht. Hilflosigkeit ist der Preis der Erfahrung meines Einsatzes. Zumindest fühlt es sich manchmal so an. Ich weiß schon: ich sollte mich auf die 0,1% konzentrieren; auf die paar Kinder, denen ich helfen konnte; auch wenn es nicht viel war, ein bisschen habe ich schließlich doch beigetragen um diese Welt besser zu machen. Aber ich kann mich nicht zu diesen Gedanken zwingen, ich kann keine echte Freude empfinden; Hilflosigkeit ist das intensivere Gefühl.

Einiges kann nie wieder so werden wie es einmal war. Die Realisierung dieses Gedankens nach meiner Rückkehr war für mich sehr erschütternd, da es die Vorstellung einiger Dinge, wie z.B Unternehmungen mit Freunden waren, die mir oft halfen in Indien voranzugehen. Doch dann komme ich nach Hause und finde mich so, wie genau vor einem Jahr zu Anfangs in Indien vor – isoliert und Abstand haltend; eine Fassade aufbauend; unsicher im Verhalten zu anderen Menschen. Ein Deja Vu, ein Kulturschock. Dieselbe Geschichte wie bei meinen ersten Einsatzmonaten; nicht nur was die Unfähigkeit mit der aktuellen Situation umzugehen betrifft, sondern auch was die Vorstellung angeht, die man sich im Vorfeld darüber gemacht hat, wie wohl alles sein wird wenn man erst mal da ist – da diese Vorstellung sich schließlich in beiden Fällen, also nach der Hin- wie auch nach der Rückreise, als Fantasie, als Gehirngespinst welches nichts mit der Realität zu tun hat, entpuppte. So viel Dinge wollte ich nach meiner Rückkehr tun, realisieren… und dann kehre ich zurück, und kann aber einfach nicht. Der Gedanke an mein Projekt, meine Kinder. Es kommt mir vor, als wäre ich ganz plötzlich und ohne Vorwarnung abgehauen, herausgerissen worden, aus meinem neuen Leben. Was soll ich hier? Ich passe hier nirgendwo rein.   

Loslassen. Seufzend schleicht sich dieses Wort in meine Gedanken. Es hört sich ja theoretisch recht leicht an. Einfach den Griff lockern und fallen lassen. Aber so leicht ist es eben doch nicht immer. Der Mensch braucht immer eine Sache bei der er das Gefühl hat, sie im Griff zu haben. Wenn dem mal nicht so ist, dann fühlt er sich schnell wie im Regen stehen gelassen. Indien war das was ich hatte, meine Welt. Jetzt warten viele neue Herausforderungen. Es ist nicht so, als ob ich nun komplett perspektivlos wäre; mir fehlt derzeit nur der richtige Blickwinkel. Ich habe meine Visionen, meine Träume; neue Herausforderungen und Aufgaben. Doch habe ich sie alle nicht im Griff, kann sie alle nicht richtig einordnen. Kenne den Weg eben noch nicht. Das zieht alles so viel Unsicherheit nach sich.
Vertrauen. Glauben. Manchmal ist das einzig richtige das man tun kann, den Kopf abzudrehen und einfach vertrauen und glauben zu lernen. Der Mensch, der versucht auf dieser Welt immer alles im Griff zu haben verbittert bald. Der Mensch, der versucht sich auf dieser Welt alles rational zu erklären wird nie wirklich Weisheit finden können.
Das Leben fließen lassen und sich neu einordnen lernen… wäre eine erwachsene Haltung mit dieser Situation umzugehen. Einordnen in die neue Rolle. Alle bisherigen Versuche der Einordnung endeten bei mir jedoch nur in Überforderung. Ja, ich bin total überfordert. So wie ich es in meinem Leben noch nie war.

Wie war das nochmal mit dem Loslassen? … Ich versuche mal dieses Bild zu verdeutlichen, das mir zu diesem Wort ‚Loslassen‘ in den Sinn kommt: Indien, mein Projekt Vimukti, auf dem Dach, Sommer, Nacht. Alle Burschen haben die Matratzen auf das Dach geschleppt weil es im Sommer einfach zu heiß ist um im Zimmer zu schlafen. Klarer wie eine Nacht, ein sich in alle Unendlichkeit erstreckendes Sternenzelt nicht sein könnte. Das gleichmäßige, omnipräsente Zirpen der Grillen und das säumige, träge Rascheln der Blätter des umliegenden Mangohains. Und da: ein Schwarm dem Schwarz der Nacht entreißender, leuchtend ergleißender, über meinem Kopf hinweggleitender Glühwürmchen. Das offene, freie Lachen der Kinder die nicht schlafen wollen. Ich mittendrin, gedankenlos, planlos, wunschlos, zeitlos. Nur dieses Gefühl am richtigen Fleck der Welt gerade zu sein.

Ich denke inhaltlich war dieser letzte Absatz wohl so etwas wie mein abschließender Gedanke. Man darf sich zu dem Gelesenen nun denken was man will; ich weiß was ich an diesem Einsatz hatte und ich würde diese Erfahrung um nichts auf dieser Welt wieder Ungeschehen machen oder tauschen wollen. Ich habe meine Lehren, meine Konsequenzen gezogen; meinen Kopf, mein Herz für viel Neues geöffnet. Bin mit vielem aber auch einfach ganz direkt konfrontiert worden, so dass sich so manche Ströme alle Wände durchbrechend selbstständig ihren Weg in mein Herz gebahnt haben.
Ich weiß nicht, ob all das, was ich in den letzten knapp 15 Monaten auf diesem Blog so veröffentlicht habe, auch lesenswert, bzw. teilweise überhaupt lesbar war. Aber darüber habe ich mir zugegeben nie besonders viel Gedanken gemacht. Ich hoffe allerdings, ich konnte dem Einen oder Anderen halbwegs nachvollziehbar nahelegen, was dieses Jahr für ein Herzenseinfluss und unbändiges Erlebnis, für eine Liebeserfahrung, Weltenerschütterung für mich war.

Zum ersten, und doch zum letzten Mal - mit Grüßen aus Mödling,

Konstantin


Ps: Ich werde irgendwann in der nächsten Zeit noch ein paar Fotos von meinen letzten Wochen in Indien hochstellen.

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