Samstag, 7. Januar 2012

Meine erste Streetwork Erfahrung und warum Indien laut ist


Bevor ich zum eigentlichen Blogeintrag komme, möchte ich mich hier zu anfangs noch kurz entschuldigen, dass ich letzte Woche nichts geschrieben habe – ich war mit einer Grippe außer Gefecht gesetzt. Weiters muss ich hier auch leider ankündigen, dass ich die Fotos von der Weihnachtsfeier erst nächste Woche auf den Blog stellen kann – Konrad und ich wollten noch Fotos austauschen, doch dazu werden wir heute wohl nicht mehr kommen, da er noch in Goa ist.
Als kleine Wiedergutmachung tanzt euch Vamsi hier etwas vor:


Nun zum eigentlichen Grund meines Schreibens. Meine letzten 2 Wochen. Hm, was ist in diesen alles so passiert - ach, da fällt es mir ein, unter anderem hatten wir ja Neujahr! Ein frohes neues Jahr wünsche ich euch! Mein Silvester fiel rein ereignistechnisch etwas karg aus. Eine halbe Stunde vor Mitternacht fing die Neujahrsmesse auf dem Rooftop der Volontärszentrale endlich an, die ich musikalisch am Keyboard gestalten sollte. Zu Mitternacht war es jedoch, wie man es sich denken kann, dann aber so laut, dass man nicht mehr viel von der Messe hatte – also wurde die Messe 5 Minuten nach Mitternacht abgeblasen; wir wünschten uns ein frohes neues Jahr und genossen das Feuerwerk bei einem fantastischen Ausblick. So kann man auch ins Jahr starten. Ein oder zwei Stunden verbrachten wir noch mit den College Boys auf dem Rooftop. Der Dachboden der Volontärszentrale ist übrigens mein persönlicher Lieblingsort in Vijayawada! Es handelt sich um einen eigentlich offenen Dachboden, mit einem für Regentage aber eigens extra angebrachten Flugdach, an welchem total gemütliche Hängesessel fixiert sind, in denen ich schon den einen oder anderen Lesenachmittag verbracht habe. Man hat außerdem einen Wahnsinns Überblick vom Rooftop über ganz Vijayawada.

Nun, soviel zu meinem Silvester. Aus ereignistechnischer Sicht muss der vorangegangene Donnerstag, also der 29. Dezember, jedoch ganz klar über Silvester positioniert werden. Bevor ich zu der Geschichte komme, noch die dazugehörige, kurze Vorgeschichte: 2 Tage vor dem bereits erwähnten Donnerstag, fand in Vimukti eine Leiterbesprechung statt, in der ausgemacht wurde, dass mit den Vimukti – Burschen ein kleines ‚Experiment‘ gemacht werden sollte. Es sollten ihre ‚Social Skills‘ getestet werden – die Burschen sollten zu Straßenkindern hingehen und sie ermutigen, zu Navajeevan mitzukommen. Prinzipiell ist diese Idee auch keine schlechte, da die Burschen natürlich dieselben Erfahrungen mit den anderen Straßenkindern teilen. Jedoch war es, Konrad und meiner Meinung nach, nicht gerade vorteilhaftester Natur, die ‚Social Skills‘ aller Campteilnehmer beim Streetwork zu testen; dieses Experiment hätte wenn, dann nur bei den 4-5 Burschen die mental auch stabil sind, durchgeführt werden sollen. Manche Burschen waren erst seit 1 - 2 Wochen in Vimukti und waren bzw. sind nach wie vor problematische Fälle, die mit ihrem Leben einfach nicht klar kommen. Wenn es nicht Drogen sind, die manche von den Burschen in Vimukti verfolgen, dann ist es die Straße, die sie verfolgt. Ja, die Straße kann in dem Fall als eine Droge angesehen werden - das wird als ‚Street addiction‘ bezeichnet. Jeder der Campteilnehmer willigt freiwillig ein, bei dem Rehabilitationsprogramm von Vimukti mitzumachen, und damit bis zum Ende des Programms von der Straße und den Drogen abgeschnitten zu sein. Aber was passiert, wenn man einem Drogenabhängigen, der sich gerade erst in der Rehabilitationsphase befindet, Drogen vor die Nase hält? Richtig, er wird rückfällig. Und genau das ist auch mit 3 Burschen an besagtem Donnerstag passiert, als ihre ‚Social Skills‘ beim Bahnhof von Vijayawada getestet werden sollten – sie wurden der Straße rückfällig und liefen weg. Ich sah mit 2 von den anderen Burschen Krishna und Ginnar Sai weglaufen – wir liefen ihnen über die Gleise nach und mussten sogar unter einen Zug krabbeln. Leider haben wir sie nicht mehr erwischt. Prasad ist sogar auf den fahrenden Zug aufgesprungen – wäre nicht Shareef an Ort und Stelle gewesen um ihn wieder runter zu zerren, wäre er wohl auch weg gewesen. Dieser Donnerstag war also mehr eine einzige Aufpass - Aktion auf die straßenabhängigen Campteilnehmer. Für etwa eine halbe Stunde am Vormittag jedoch,  verlief es tatsächlich mal planmäßig und wir sprachen ein paar von den Straßenkindern am Bahnhof an. Das war eine sehr interessante Erfahrung, denn so konnte man auch mal sehen, was das ‚Street Presence Team‘ von Navajeevan jeden Tag am Bahnhof arbeitet. Es werden alle bekannten Verstecke abgegangen und die Burschen angesprochen und ermutigt, zum Shelter mitzukommen. Was ich bei diesen Verstecken gesehen habe, war eine erschreckende Erfahrung. Verwahrloste, schmutzige Jugendliche, ausgebreitete Kartons als Schlafunterlage, Ratten die direkt neben offenen Wunden von den Jugendlichen vorbeihuschen, kleine Glasfläschchen in welchen verschiedenste Drogen und Substanzen enthalten waren, Tüten zum Kleberschnüffeln,… Viele von ihnen waren schon bei Navajeevan, wo sie sich waschen konnten, frische Kleider und was zu essen erhielten. Manche befanden sich sogar schon in einer Ausbildung. Doch die Straßenabhängigkeit hat sie immer und immer wieder eingeholt. Dennoch arbeitet das ‚Street Presence Team‘ unablässig jeden Tag daran, diesen Jugendlichen wieder eine Chance zu geben, von der Straße wegzukommen. Eine Arbeit, die sicher viel Ausdauer und Geduld kostet, aber unheimlich wertvoll ist. Ich finde es sehr gut, dass Navajeevan auf diesem Bereich so viel Initiative zeigt. Denn darum geht es einfach – vom sinkenden Schiff nicht einfach nur ein paar Privilegierte, die sich richtig verhalten und dem sofort Folge leisten was man sagt, ins Rettungsboot zu setzen und davon zu rudern, sondern selbst aufopfernd am sinkenden Schiff zu bleiben und unablässig zu versuchen, so viel Menschen wie nur möglich, und seien noch so schwer umgängliche dabei, ins Rettungsboot zu bekommen.
Der Campleitung von Vimukti war dieser Tag jedenfalls eine Lehre, und obwohl sie ursprünglich auch Freitag noch mit den Burschen am Bahnhof Street Work machen wollten, fuhren sie bereits Donnerstagabend bereits zurück ins Projekt. Noch bevor sie losfuhren, waren zum Glück die 3 Ausreißer auch wieder in der Gruppe versammelt. Soweit ich weiß ist Mastan reuevoll wieder zurückgekehrt, Krishna und Ginnar Sai wurden später am Bahnhof noch aufgegabelt.

Abschließend möchte ich noch eine kurze Abhandlung über das Thema ‚Lärm in Indien‘ schreiben. Der folgende Text entsprang meinem Kopf während einer Busfahrt in die Stadt Nuzvid, also zu meinem Projekt Vimukti. Einerseits besteht er aus einem eigentlich offensichtlichen Punkt, also den sich ohnehin jeder denken kann der gerade in Indien verweilt, und einem vielleicht weniger offensichtlichen Punkt. Bei dieser Busfahrt saß ich jedenfalls neben dem Busfahrer und mir fiel mal wieder auf, dass der Busfahrer alle 5 Sekunden hupt. Unablässiges Herumgehupe auf Straßen – eine typische Charakteristik Indiens. Nein, es ist mehr als eine Charakteristik, es ist eine Lebensversicherung. Die Inder leben von ihrem Lärm. Natürlich hat das zum Teil auch mit der südländischen Mentalität zu tun, aber der überwiegende Grund für das ständige Herumgehupe ist das unaufhörliche Herumgewusel auf den Straßen – sobald ein Bus in eine Straße einbiegt -ganz gleich ob es sich um eine kleine Seitengasse, Hauptstraße oder Landstraße handelt-, kannst du sicher sein, dass mindestens 50% der Leute, die sich in dem Moment mitten auf der Straße befinden, keine Ahnung davon haben, dass ein Bus gerade auf sie losdüst; weitere 30% beabsichtigen gerade, mit einem gedankenverlorenen Blick steinern auf die eigenen Füße gerichtet (zu Gedankenverlorenheit neigen Inder -genauso wie ich- besonders gerne), die Straße zu überkreuzen. Dann wird einmal kurz und ohrenbetäubend gehupt und sofort wird abrupt die Straße freigemacht –diese Szene bietet sich in Indien einem so oft, dass der gedankenverlorene Inder sich noch nicht einmal mehr dazu bemüht seinen Kopf zu heben, nein, er bleibt nur einfach stehen; sobald der Bus vorbei ist geht er dann gedankenverloren wieder weiter und reagiert erst wieder auf das nächste Hupen-. Als nächsten Grund für den ständigen Lärm, den man in Indien täglich ausgesetzt ist, kam mir die aus der hohen Bevölkerungszahl resultierende Angst der Leute, in der Masse unterzugehen, in den Sinn. Eine Milliarde Menschen, da wird man leicht einer von vielen. Und davor haben viele Inder Angst – sie möchten gesehen und gehört werden (das ist übrigens meiner Meinung nach auch der Grund warum immer mehr Inder Facebook haben, weil sie dort auf sich aufmerksam machen können). Darum gibt es auch so viele verrückte Inder, die aufgrund von besonders waghalsigen oder verrückten Aktionen gesehen werden wollen. Der Minderwertigkeitskomplex ist in Indien eine ganz besonders stark verbreitete Krankheit. Nicht zuletzt durch die Problematik des Kastensystems, welches nach wie vor beträchtlichen Einfluß auf die Gesellschaft Indiens hat. Wenn der Großteil von 1 Milliarde Menschen als viele, niedere Arbeiter ‚geboren‘ werden, von woher sollen diese dann die Gewissheit nehmen, etwas Einzigartiges zu sein? Und auch wenn die Inder ihre Lebenssituation, aufgrund des Glaubens an das sogenannte ‚karma‘ (jedes Leid ist aufgrund von Fehlern, die im vorherigen Leben begangen wurden, selbstverschuldet), akzeptieren, herrscht dennoch wie bereits schon erwähnt, speziell bei immer mehr jungen Menschen, der Drang, gehört zu werden. Und wer gehört werden will in Indien, der muss laut sein. Sehr laut. Indien lärmt also auf verschiedene Weisen, nicht nur auf akustischer.

So, langsam muss ich mal wieder zu einem Ende finden. Ich bin schon sehr gespannt auf diese Woche. Letzte Woche sind übrigens wieder 3 neue Burschen in Vimukti dazu gestoßen. Jetzt sind es mittlerweile 13 Burschen. Langsam wachsen wir ja doch. Gewachsen ist übrigens auch die Anzahl der Volontäre – 4 neue Volontäre aus Linz haben sich letzte Woche in der Volontärszentrale eingefunden, sind alle sehr nett. Es weht ein gewisser Wind der Veränderung. Speziell in Vimukti scheint dieser auch zu wehen. Vimukti soll programm- und organisationstechnisch auf einigen Punkten verändert werden (unter anderem sollen wir Vogelsträuße, Ziegen, Kühe und Hühner bekommen). Ob sich die Woche in diesem Bereich aber nun wirklich was verändert, werde ich euch erst nächsten Sonntag berichten können.
Bis dahin wünsche ich euch noch einen schönen Sonntag und eine erfolgreiche Woche!

Liebe Grüße aus Indien



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